Buchüberblick: Letzte Chance

Ein strukturierter Überblick über Gregor Schöllgens und Gerhard Schröders aktuellem Geopolitik-Buch

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Inhalt:

Zur Wiederveröffentlichung dieses Buchüberblicks

Manche Bücher über Geopolitik sind geradezu prophetisch. Andere werden durch reale Ereignisse umgehend widerlegt. Im Falle von Letzte Chance wird es vielen so vorkommen, als ob wir es mit der zweiten Kategorie von Büchern über Geopolitik zu tun hätten.

Was geschieht mit den Ideen eines widerlegten Buches? Wenn sie nicht von vornherein reine Wunschvorstellungen waren, tauchen sie unter und warten auf bessere Umstände. Wir sehen, dass dies im Großen Spiel oder im Spiel der Nationen, wie andere es genannt haben, ständig geschieht. Das wird weitergehen, so lange Menschen Geschichte studieren und Landkarten lesen.

Allgemeine Informationen

Titel: Letzte Chance: Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen
Autoren: Gregor Schöllgen [1952- ] Gerhard Schröder [1944- ]
Veröffentlichungsdatum: 25. Januar 2021
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
Sprache: Deutsch
Seitenzahl: 257
Index: Abkürzungen, Namenregister
Bibliographie: keine, keine Quellenangaben
Zeittafeln: keine
Graphiken: keine


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Informationen über die Autoren

Gerhard Schröder

Gerhard Schröder ist Vorsitzender der Aufsichtsräte von Rosneft und der Nord Stream AG und hat seinen eigenen Podcast, Die Agenda, der im Frühjahr 2020 startet. Unterstützt von einer sozialdemokratisch-grünen Koalition war er von 1998 bis 2005 Bundeskanzler von Deutschland. Nach 2005 wurde er ein internationaler Berater und Lobbyist mit engen Beziehungen zu Wladimir Putin. Derzeit lebt er in Russland und ist in einen Rechtsstreit mit der SPD über die mit seiner früheren Kanzlerschaft verbundenen Privilegien verwickelt.

Gregor Schöllgen

Gregor Schöllgen ist ein bekannter akademischer Historiker, dessen Forschung und Lehrtätigkeit sich auf die deutsche Außenpolitik konzentriert. Er hat im Auswärtigen Amt Geschichte unterrichtet. Er hat zahlreiche populäre Biografien über deutsche Politiker (darunter Gerhard Schröder) und Unternehmer geschrieben und ist seit langem ein Befürworter einer selbstbewussteren deutschen Außenpolitik.

Hauptgedanke: Der Westen ist geopolitisch tot und Europa braucht eine Post-NATO-Armee

Systemisches Risiko Narrativ: NATO und westliche Arroganz sind schlecht für Europa

Auch wenn der Westen derzeit noch eine Insel der Stabilität in einer zunehmend instabilen Welt ist, ist das internationale Bündnis zwischen den USA und Europa, das seinen Kern bildet, zu einem dysfunktionalen System geworden, das mit der politischen Stabilität und dem wirtschaftlichen Wachstum Europas unvereinbar ist. Diese Situation ist auf den Unilateralismus der USA innerhalb des NATO-Bündnisses und auf die Unzulänglichkeiten des politischen Kompromisses zurückzuführen, den die EU in ihrer derzeitigen aufgeblähten und alternden Form darstellt.

In Europa beruht der Zusammenhalt, der die westlich orientierten Institutionen stützt, auf einem falschen Narrativ, demzufolge 1) Russland ein grundlegendes systemisches Risiko darstellt und der Kalte Krieg wiederaufgelebt ist und 2) nichtwestliche souveräne Mächte einer humanitären moralischen Erziehung und disziplinarischen Drucks bedürfen. Die NATO-Erweiterung nach 1991 und die humanitäre Arroganz gegenüber nicht-westlichen souveränen Mächten rufen wiederum Reaktionen hervor, die von den Verfechtern des westlich geprägten Status quo fälschlicherweise als Bestätigung ihres Narrativs interpretiert werden. Die Europäer laufen somit Gefahr, in einer bösartigen Rückkopplungsschleife gefangen zu sein, die sowohl ihr falsches Gefühl der moralischen Überlegenheit als auch ihr mangelndes Verständnis der geopolitischen Realitäten verstärkt. Der Westen hat seine Glaubwürdigkeit verloren, und dies ist ein wichtiger Treiber für systemische Risiken in Europa.

Systemisches Risiko Theorie: Um die Welt zu verstehen, braucht man geopolitische Intelligenz

90 % des Buches bestehen aus historischen Analysen lokaler nationaler und regionaler Situationen in der ganzen Welt. Die den Analysen zugrunde liegende Theorie der Autoren ist, dass die wichtigsten Triebkräfte von Konflikten in der ganzen Welt eher geopolitischer als ideologischer Natur sind: Kontrolle über wichtige Ressourcen, Demografie und schlecht konzipierte Staaten. Diese materiellen Triebkräfte der Geopolitik sind in der idealistischen, westlich-zentrierten Darstellung im Wesentlichen nicht enthalten. Obwohl man sagen kann, dass diese zugrundeliegende Theorie die Organisation des Buches bestimmt, versuchen die Autoren nicht, sie auf die Ebene eines geopolitischen Systems zu heben. Dieses Buch bietet keine große Erzählung.

Ein weiterer impliziter theoretischer Punkt der Autoren ist, dass, wenn möglich, ein supranationales souveränes System der optimale Weg ist, um systemische Risiken wie militärische Konflikte, Piraterie, unsichere Seerechte, Terrorismus, Klimawandel, Verweigerung des Zugangs zu Ressourcen, Erschöpfung der Ressourcen, sozioökonomische Unsicherheit, unkontrollierte Einwanderung, Pandemien und ausländische Datenoligopole zu bewältigen.

Darüber hinaus gehen die Autoren auf Seite 28 kurz auf die Möglichkeit einer Symbiose zwischen den Prinzipien von Markt- und Planwirtschaft ein.

Um es klar zu sagen: Dies ist kein Theoriebuch. Den Autoren geht es um einen frischen Blick auf die Fakten, nicht um die Formulierung verborgener Gesetze, großer Erzählungen der Geschichte oder wirtschaftlicher Theorien. Sie verwenden keine historischen Analogien, die über die oben erwähnten geopolitischen Muster hinausgehen würden. Sie betonen zwar die Bedeutung und Allgemeingültigkeit dieser Muster, wenn sie beispielsweise auf Seite 161 schreiben, dass schlechte materielle Lebensbedingungen eine Triebfeder des Terrorismus sind. Aber die Frage, ob eine Veränderung der Weltordnung etwas mit großen wirtschaftlichen oder zivilisatorischen Zyklen zu tun haben könnte, interessiert sie überhaupt nicht.

Systemisches Risikomanagement Agenda: Europa braucht die volle supranationale Souveränität

Die Europäer müssen das Heft des Handelns in die Hand nehmen und eine neue, supranationale Grundlage des Zusammenhalts schaffen: ihr gemeinsames strukturelles geoökonomisches Interesse an der Sicherung des Zugangs zu natürlichen Ressourcen auf der ganzen Welt im Rahmen des Völkerrechts, verbunden mit einem gemeinsamen Verantwortungsgefühl für die schlechten Staatsentwürfe, die als historische Folge des europäischen Imperialismus auf andere Länder Auswirkungen haben können. Die EU-Mitglieder müssen aus der NATO austreten und eine supranationale Armee auf der Grundlage eines deutsch-französischen Kerns aufbauen. Eine weitere supranationale Integration der EU-Mitglieder wird das Wirtschaftswachstum ankurbeln und ein effizienteres Management der systemischen Risiken ermöglichen.

Überblick über unterstützende Gedanken

Stichwörter nach Kapiteln

  • Kapitel 1: "Abserviert: Europas Stagnation"

Der Aufstieg des Westens; die europäische Integration; die Entkolonialisierung Frankreichs; die deutsch-französische Aussöhnung 1950; der Élysée-Vertrag 1963; die deutsche Wiedervereinigung; der Vertrag von Maastricht 1992; die Unabhängigkeit Norwegens im Energiebereich; der Brexit.

  • Kapitel 2: "Ohne Rücksicht auf Verluste: die USA in der Welt"

Amerikanischer Imperialismus; Folgen des Ersten Weltkriegs; Neun-Mächte-Vertrag; Aufstieg Adolf Hitlers; Beteiligung der USA am Zweiten Weltkrieg; US-Sowjetische Allianz; Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki; NATO; Erweiterung der NATO; Verbreitung von Kernwaffen; Prager Frühling; Vietnamkrieg; Nixon-Schock 1971; Beteiligung der USA an Regimewechseln in Lateinamerika; Jugoslawienkriege.

  • Kapitel 3: "Der wankende Riese: Russland am Scheideweg"

Französischer Russlandfeldzug 1812; Molotow-Ribbentrop-Pakt; Operation Barbarossa; Kalter Krieg; Zusammenbruch der Sowjetunion; Annexion der Krim durch die Russische Föderation; Nord Stream; Die Französische Position zu Nord Stream 2; Chinesisch-russische Annäherung.

  • Kapitel 4: "Dynamik pur: China auf dem Weg zur Weltspitze"

Chinesisch-amerikanische Annäherung; Aufstieg Chinas; OBOR; Politischer Status Taiwans; Xinjiang-Konflikt; Hongkong-Proteste 2019-2020; Territoriale Streitigkeiten im Südchinesischen Meer; Geostrategische Expansion Chinas.

  • Kapitel 5: "Ein Riese wird wach: Der asiatische Halbmond"

Koreakrieg, nordkoreanisches Atomprogramm; 1976 Wiedervereinigung Vietnams; chinesisch-indischer Grenzstreit; Kaschmirkonflikt; indisch-pakistanische Kriege und Konflikte; deutscher Militäreinsatz in Afghanistan; amerikanisches Versagen in Afghanistan.

  • Kapitel 6: "Gefährliche Nachbarn: Das kurdische Viereck"

Iranische Revolution; Iran-Irak-Krieg; Golfkrieg; Versagen des UN-Sicherheitsrates, einen Krieg zu verhindern; iranisches Atomprogramm; syrischer Bürgerkrieg; Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg; Rolle der Kurden im syrischen Bürgerkrieg; Kriege zwischen Armenien und Aserbaidschan; türkische Ambitionen auf regionale Vorherrschaft.

  • Kapitel 7: "Die Mutter aller Konflikte: Der Nahostkonflikt"

Der Holocaust; der Nahostkonflikt; die Suez-Krise; die Beziehungen zwischen Frankreich und Israel; die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel; der Arabische Frühling.

  • Kapitel 8: "Tore zur Welt: Der Persische Golf und das Rote Meer"

Irakkrieg; Houthi-Bewegung; chinesische Militärpräsenz in der Region des Roten Meeres und des Persischen Golfs; Demographie Ägyptens; sudanesische Bürgerkriege; Demographie Äthiopiens; somalische Piraten; Atalanta-Mission; amerikanische Drohnenkriege in Somalia; Migration von Afrika nach Europa.

  • Kapitel 9: "Das Herz der Finsternis: Zentralafrika"

Völkermord in Ruanda; Rolle Frankreichs beim Völkermord in Ruanda; Kongokriege; Operation Barkhane.

  • Kapitel 10: "Quellen des Lebens: Das Ringen um die Ressourcen"

Antarktis-Vertragssystem; Fischereimoratorium im zentralen Arktischen Ozean; Seerechtskonvention der Vereinten Nationen; Erweiterung des russischen Festlandsockels; Ölkrise 1973; Ölkrise 1979; Golfkrieg IV; Kabeljaukriege; Sechstagekrieg; Südostanatolien-Projekt; Wasserpolitik im Nilbecken; chinesische Wasserpolitik; chinesisches Monopol für seltene Erden.

Andere souveräne Systeme

Zweitbeste Systeme: Die europäischen nationalen Souveränitätssysteme werden wahrscheinlich bleiben

Eine vollständige europäische supranationale Integration ist weniger wahrscheinlich als eine Stagnation und letztlich eine Zersplitterung. Deshalb lautet der Titel des Buches "Letzte Chance": Wenn Frankreich und Deutschland die föderale Integration nicht bald schaffen, wird sich das Zeitfenster schließen. Auch wenn die Autoren es vorziehen, sich nicht auf dieses Szenario zu konzentrieren, stellen sie auf Seite 227 die Frage: "Brauchen wir Organisationen wie die EU in Zukunft überhaupt noch?" Die Botschaft ist klar: für die EU geht's jetzt entweder nach oben, oder raus.

Die Autoren ziehen es auch vor, eines der Hauptthemen, das Frankreich und Deutschland trennt, nicht zu berücksichtigen: die Kernkraft. Gerhard Schröder zeigt sich bis heute stolz auf seine Rolle beim Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft. Gleichzeitig sind er und Gregor Schöllgen sich darüber im Klaren, dass ein supranational integriertes Europa seine eigene nukleare Abschreckung kontrollieren muss. Sie scheinen ihre Hoffnung, dass dies tatsächlich geschehen wird, auf Emmanuel Macron zu setzen.

Systeme, die nicht auf der Karte sind: extranationale souveräne Systeme stehen völlig außerhalb des Schröder-Schöllgen Narrativs

Hypothetische kryptobetriebene Netzwerkstaaten kommen im Schröder-Schöllgen-Narrativ nicht vor.


Versionen des Dokuments

Aktuelle Version

2.0, veröffentlicht am 16. Januar 2023

Andere Versionen

1.0, veröffentlicht am 15. September 2021